






Leseempfehlungen
Papstamt und Kirchenverfassung
Aus den Schriften 'Abdu'l-Bahás und Shoghi Effendis
Frage: im Matthäusevangelium, Kapitel 16, Vers 18, heißt es: "Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde." Was ist die Bedeutung dieses Verses?
Antwort: Dieser Ausspruch Christi ist die Bestätigung der Worte Petri, als Christus fragte: "Wer sagt denn ihr, dass ich sei?" und Petrus antwortete: "Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn." Darauf erwiderte ihm Christus: "Du bist Petrus" - denn Kaiphas bedeutet im Aramäischen Felsen - "und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde." Denn die anderen gaben Christus zur Antwort, dass Er Elias wäre, einige sagten Johannes der Täufer und wieder andere meinten Jeremia oder der Propheten einer.
Christus wollte durch eine Andeutung oder eine Anspielung Petri Worte bestätigen; und so sagte Er wegen der Eignung seines Namens, Petrus: " ... und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde" das heißt, dein Glaube, dass Christus der Sohn des lebendigen Gottes ist, wird zur Grundlage der Religion Gottes; und auf dieser Überzeugung wird das Fundament der göttlichen Kirche - die das Gesetz Gottes ist - errichtet werden.
Betrachte die Lehren Christi und prüfe Leben und Art der Päpste. Überlege: Gibt es zwischen den Lehren Christi und den Methoden der päpstlichen Herrschaft irgendeine Ähnlichkeit? Wir üben nicht gern Kritik, aber die Geschichte des Vatikans ist sehr außergewöhnlich. Der Zweck Unserer Beweisführung ist, dass die Lehren Christi eine Sache für sich sind, und die Methoden der päpstlichen Regierung eine ganz andere, denn sie stimmen nicht überein. Sieh, wie viele Protestanten auf Befehl der Päpste getötet wurden. Wie viele Gewalttätigkeiten und Unterdrückungen haben sie gutgeheißen, und wie viele Strafen und Torturen haben sie verhängt! Kann irgendeiner der süßen Düfte Christi in solchen Handlungen entdeckt werden?
('Abdu'l-Bahá, Beantwortete Fragen, S. 136-137)
Niemand wird, meine ich, die Tatsache anzweifeln, dass der Hauptgrund, warum die Einheit der Kirche Christi auf nicht wieder gut zu machende Weise erschüttert und ihr Einfluss im Laufe der Zeit untergraben wurde, darin liegt, dass das Bauwerk, das die Kirchenväter nach dem Hinscheiden Seines Ersten Apostels errichtet hatten, nicht auf Christi eigenen und ausdrücklichen Weisungen ruhte. Die Amtsgewalt und die Merkmale ihrer Verwaltung sind nur gefolgert und mittelbar, mehr oder minder berechtigt, aus einigen ungenauen, bruchstückhaften Hinweisen abgeleitet, die sie unter Seinen im Evangelium aufgezeichneten Worten verstreut fanden. Keines der kirchlichen Sakramente, keiner der Riten und keine der Zeremonien, welche die Kirchenväter kunstvoll ausgearbeitet und prunkvoll zelebriert haben, keine der Maßregeln harter Zucht, die sie den einfachen Christen unerbittlich auferlegten - nichts davon beruht unmittelbar auf der Vollmacht Christi oder ging von Seinen ausdrücklichen Worten aus. Nichts davon hat Christus geschaffen, noch hat Er eine dieser Institutionen besonders mit der hinreichenden Vollmacht belehnt, Sein Wort auszulegen oder dem, was Er nicht ausdrücklich geboten hat, etwas hinzuzufügen.
(Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá'u'lláhs, S. 38-39)
Wird durch den Text des Evangeliums ... den Führern und Körperschaften, die das Recht beanspruchen und die Aufgabe übernommen haben, die Verordnungen ihrer heiligen Schriften auszulegen und die Angelegenheiten der betreffenden Gemeinschaften zu verwalten, ausreichende Autorität verliehen? Konnte Petrus, das anerkannte Oberhaupt der Apostel ... zur Bekräftigung des Vorrangs, mit dem [er] ausgestattet war..., schriftliche und ausdrückliche Bestätigungen von Christus ... aufweisen, mit denen [er] diejenigen zum Schweigen [hätte] bringen können, die unter [seinen] Zeitgenossen oder in einer späteren Zeit [seine] Autorität zurückgewiesen und durch ihre Handlungsweise die bis auf den heutigen Tag fortbestehenden Glaubensspaltungen beschleunigt haben? Wo, so dürfen wir getrost fragen, können wir in den überlieferten Aussprüchen Jesu Christi, mag es sich nun um die Frage der Nachfolge oder um die Verfügung besonderer Gesetze und genau umrissener Verwaltungsanordnungen handeln, neben den rein geistigen Prinzipien irgend etwas finden, das den ausführlichen Vorschriften, Gesetzen und Warnungen nahekommt, die in den verbürgten Äußerungen sowohl Bahá'u'lláhs als auch 'Abdu'l-Bahás in reicher Fülle vorliegen?
(Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá'u'lláhs, S. 208)
Es liegt gewiss ein Körnchen Wahrheit in der Grundlage der Organisation der christlichen Kirche. Zum Beispiel sind die Vorrangstellung Petri und sein Recht auf die Nachfolge Jesu vom letzteren begründet worden, wenn auch ausschließlich mündlich und nicht in einer unmissverständlichen und klaren Sprache.
(Aus einem Brief im Auftrag Shoghi Effendis an einen einzelnen Gläubigen, 28.12.1936 [e.Ü.])
Was den Ausspruch Jesu Christi "Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will Ich Meine Kirche bauen" betrifft; dieser Spruch begründet ohne jeden Zweifel die Vorrangstellung Petri und ebenso den Grundsatz der Nachfolge, doch ist er nicht ausdrücklich genug, was die Wesensart und Funktionsweise der Kirche selbst anbetrifft. Die Katholiken haben zu viel in diesen Ausspruch hineingelesen und von ihm gewisse Schlussfolgerungen abgeleitet, die überhaupt nicht zu rechtfertigen sind.
(Aus einem Brief im Auftrag Shoghi Effendis an einen einzelnen Gläubigen, 07.09.1938 [e.Ü.])
Die Bahá'í-Verwaltungsordnung als Gegenmodell
Sie haben auch in eindeutiger und eindringlicher Sprache die Zwillingsinstitutionen des Hauses der Gerechtigkeit und des Hütertums als ihre erwählten Nachfolger eingesetzt ...
(Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá'u'lláhs, S. 38)
[Es] wird unzweifelhaft klar und deutlich, dass der Hüter des Glaubens zum Ausleger des Wortes gemacht und dem Universalen Haus der Gerechtigkeit die Gesetzgebungsgewalt für die Gegenstände verliehen worden ist, die nicht ausdrücklich in den Lehren offenbart sind ...
(Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá'u'lláhs, S. 215)
Ian Semple - Auslegung und das Hütertum
Das Thema dieser Sitzung ist, wie Sie Ihren Programmen entnehmen können, "Auslegung und das Hütertum". Das scheint ein einfacher Stoff zu sein, aber je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, daß die Bahá'í-Auffassung von Auslegung sich in vielerlei Hinsicht von der in früheren Sendungen vorherrschenden unterscheidet, und daß es sogar innerhalb des Glaubens viele falsche Auffassungen gibt, die in der Tat Prüfungen für die Gläubigen hervorrufen können.
Hier möchte ich gerne einen Moment vom Thema abschweifen, um eine persönliche Anmerkung über die Koexistenz von göttlicher Autorität und individueller Freiheit der Äußerung zu machen, die eine so charakteristische Eigenschaft des Glaubens ist. Jemand - ich glaube, es war ein Pilger - sagte mir einmal, daß er meine, daß es für die Mitglieder des Universalen Hauses der Gerechtigkeit unmöglich gewesen wäre, zu sagen, was sie denken, wenn der Hüter in ihrer Besprechung gesessen hätte. Ich hatte nur das Vorrecht weniger Stunden in der Gegenwart des Hüters, aber ich stimme dieser Ansicht nicht zu. Ich glaube, daß man sich in seiner Gegenwart nicht gewagt hätte, irgend etwas anderes zu tun, als genau das zu sagen, was man dachte. Ich werde auch in dieser Ansicht bestätigt durch das Handeln der Hände der Sache Gottes seit der Entstehung des Hauses der Gerechtigkeit - der Hände, die so eng mit dem geliebten Hüter zusammengearbeitet haben. Sie haben in all ihren Beratungen mit dem Universalen Haus der Gerechtigkeit immer völlige Loyalität und Offenheit gezeigt, und diese Kombination war eine enorme Quelle der Kraft und Inspiration für das Universale Haus der Gerechtigkeit.
Daher glaube ich, daß die Gegenwart einer Quelle göttlicher Führung im Glauben, die eine Garantie für seine Einheit und die Erhaltung der Reinheit seiner Lehren ist, keinen Widerspruch zum Prinzip der Gedankenfreiheit darstellt. Ich bezweifle, daß es möglich ist, ein völlig klares Verständnis über das Thema der Auslegung zu erlangen, aber vielleicht können wir uns bis zu einem gewissen Grad annähern.
Ich schlage vor, das Thema in drei Hauptpunkte zu unterteilen:
1. Die Unterscheidung zwischen der Auslegung, die wir alle vornehmen, wenn wir über irgendein Thema diskutieren, und die durch den Hüter ausgeübte maßgebende Auslegung
2. Die Unterscheidung zwischen maßgebender Auslegung und göttlich geführter Gesetzgebung
3. Aspekte der Funktion des Auslegers wie sie von Shoghi Effendi ausgeübt wurde. Dieser Teil des Themas ist unser Hauptanliegen in diesem Seminar und daher werde ich es auch in eine Anzahl von Aspekten unterteilen, obwohl ich betonen muß, daß dies eine völlig willkürliche Unterteilung ist und jede Art von Auslegung in die andere hineinspielt. Sie sind:
3.1 Festlegung der Bedeutung bestimmter Texte
3.2 Erklärung der durch die Texte übermittelten Gedanken, d.h. die Erläuterung ihrer Bedeutung
3.3 Entfaltung von keimhaft angelegten Aussagen in der Heiligen Schrift
3.4 Beispiele für die Verweigerung, einen Text weiter zu erläutern, oder Aussagen zu nicht im Text behandelten Themen zu machen
3.5 Festlegung des Sphäre der maßgebenden Auslegung
3.6 Erhellung der Gesamtbedeutung der Offenbarung
3.7 Die Macht zu einem langen, ununterbrochenen Ausblick über eine Folge von Generationen hinweg
1. Aspekte der Auslegung
Es ist selbstverständlich ohne Auslegung unmöglich, irgendeine Aussage, ob geschrieben oder mündlich, zu verstehen oder darüber zu sprechen. Der Offenbarer als Manifestation Gottes hat die übermenschliche Aufgabe, der Menschheit Wahrheiten zu vermitteln, die sie noch nicht versteht, und sie zu einer Art des Verhaltens zu erziehen, die sie noch nicht erreicht hat. Um dies zu tun, muß Er die begrenzten Sprachen gebrauchen, die um Ihn herum gesprochen werden, mit all ihren angesammelten Bedeutungen und Begriffsinhalten. Er gebraucht nicht nur Worte, Metaphern und Gleichnisse mit höchster Geschicklichkeit, sondern verwandelt alte Formen und Begriffe und indem Er sie benutzt, haucht Er ihnen eine neue Bedeutung ein. Daher müssen wir bei dem Versuch, uns über die Offenbarung zu unterrichten, drei Bedeutungen in jedem Text, den wir lesen, studieren: Die Bedeutung der Worte selbst; die Bedeutung, die sie für die besondere Person gehabt haben werden, an die die Manifestation Gottes sich richtete; und auch die neue Bedeutung oder die Bedeutungen, die Er zu vermitteln suchen wird. Mit anderen Worten: Wir müssen drei Fallstricke meiden: Einer ist der, die offensichtliche Bedeutung der Worte zu ignorieren (In der Vergangenheit waren Leute manchmal so erpicht darauf, die esoterische Bedeutung eines Textes zu exzerpieren, daß sie für die klare Bedeutung der Worte blind waren); der zweite ist der, die Worte aus ihren historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen herauszureißen; der dritte ist zu denken, daß die historischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge selbst uns ein Verständnis der offensichtlichen Bedeutung und dessen, was die Manifestation sagt, ermöglichen.
Ein gutes Beispiel, um dies zu zeigen, ist Bahá'u'lláhs Sendschreiben an einen Arzt. Einige Abschnitte sind sehr einfach. Um andere zu verstehen, müssen wir uns der Warnung des Hüters erinnern, daß dieses Sendschreiben an einen Arzt der alten medizinischen Schule gerichtet war, und daß wir ohne ein Verständnis der Terminologie dieser Schule nicht verstehen können, was Bahá'u'lláh sagte. Indessen ist klar, daß Bahá'u'lláh dem Arzt nicht nur erzählte, was der schon wußte. Er erklärte ihm in einer für ihn verständlichen Terminologie gewisse Wahrheiten über Gesundheit und Heilung, die er vermitteln wollte.
Der historische und gesellschaftliche Zusammenhang ist nicht der einzige Zusammenhang einer Textstelle. Es gibt auch den Zusammenhang mit den anderen Lehren. In "Ährenlese", Abschnitt 127 finden wir die folgenden Worte Bahá'u'lláhs:
"Wenn es euer Wunsch ist, o ihr Menschen, Gott zu erkennen und die Größe Seiner Macht zu entdecken, dann schaut auf Mich mit Meinen eigenen Augen und nicht mit den Augen eines anderen außer Mir. Nie werdet ihr sonst imstande sein, Mich zu erkennen, selbst wenn ihr über Meine Sache nachdenkt, solange Mein Reich dauert, und über alles Erschaffene nachsinnt durch alle Ewigkeit Gottes, des höchsten Herrn über alle, des Allgewaltigen, des Allewigen, des Allweisen."
Dies impliziert, glaube ich, unter anderem, daß der wichtigste Schlüssel zum Verständnis der Schriften die Schriften selbst sind, daß wir sie nicht bloß von unserem Standpunkt aus lesen müssen und versuchen zu sehen, was wir verstehen können, sondern sie von Bahá'u'lláhs Standpunkt aus betrachten müssen: Was versucht Er zu vermitteln? Und zu welchem Zweck? Es ist nicht gut, einen Text zu nehmen und zu versuchen, ihn isoliert von allen anderen Lehren, die sich darauf beziehen mögen, zu verstehen. Daher müssen wir jede Aussage in Beziehung zur gesamten übrigen Offenbarung setzen und versuchen zu verstehen, was Bahá'u'lláh zu vermitteln bestrebt ist. Die Konsequenz dieser Erkenntnis ist zu akzeptieren, daß wir, da wir niemals die ganze Offenbarung umfassen können, immer vorsichtig mit unserem Verständnis sein müssen, sogar wenn es uns völlig klar zu sein scheint. Ein schlagendes Beispiel für die Wichtigkeit dessen kommt im Kitáb-i-Aqdas vor, wo wir die Verse finden: "Gott hat euch die Ehe verordnet" und "Tretet in den Stand der Ehe, o Menschen, damit ihr einen hervorbringt, der Meiner gedenken wird; Dies ist Mein Gebot an euch, gehorcht ihm zu eurem eigenen Beistand". Man würde denken, daß dies sehr klare Aussagen sind, die keine Auslegung zulassen. Es scheint auf den ersten Blick ein unzweideutiger, verbindlicher Befehl zu sein. Einer der Gläubigen hat jedoch Bahá'u'lláh selbst über diese Textstelle befragt und ob sie bedeute, daß die Ehe obligatorisch sei. Bahá'u'lláh antwortete: "Dies ist nicht obligatorisch." Ich führe dies als Beispiel an, weil es manchmal in Diskussionen über ein Thema eine große Versuchung für Bahá'í ist, dogmatisch (und manchmal hitzig!) zu erklären: "Das können Sie nicht sagen! Hier sind die Worte des Textes und sie sind ziemlich klar!"
Individuelle Auslegung dieser Art ist nicht nur unvermeidlich. Sie ist wesentlich, wenn wir die Tiefe unseres Verständnisses erweitern und gleichzeitig seine ständig vorhandenen Begrenzungen anerkennen wollen. Ich glaube, daß die Kombination von Ermutigung zu individuellem Denken mit dem Vorhandensein eines unfehlbaren Mittelpunktes maßgebender Auslegung eine der einzigartigen Stärken dieser Sendung ist, deren Auswirkungen sogar während der Abwesenheit des Hüters andauern. Die außerordentliche Tatsache, daß es im Prinzip einen Mittelpunkt solcher Führung in der Sache gibt, und daß jede andere Auslegung der Maßgeblichkeit beraubt ist, lehrt uns eine Bescheidenheit in unserem Denken, die eine der stärksten Bande der Einheit ist.
Obwohl die individuelle Auslegung nicht maßgeblich ist, sollte uns das nicht zu dem Extrem führen daraus zu folgern, daß die von Einzelnen gegebenen Erklärungen nicht inspiriert sein könnten. In einem Sendschreiben, daß als Abschnitt 203 in "Briefe und Botschaften" von Abdul-Bahá veröffentlicht ist, schrieb der Meister:
"Die Gesegnete Schönheit hat diesem Diener prophezeit, daß sich Seelen erheben werden, die wahre Verkörperungen der Führung sind, Banner der himmlischen Heerscharen, Fackeln der Einheit Gottes und Sterne Seiner reinen Wahrheit, strahlend in den Himmeln, wo Gott allein regiert. Sie werden die Blinden sehend und die Tauben hörend machen; sie werden die Toten zum Leben erwecken. Allen Völkern der Erde werden Sie entgegentreten und ihre Sache mit den Beweisen des Herrn der sieben Sphären vertreten."
Es wäre daher ein Fehler anzunehmen, daß die Bahá'í-Offenbarung Gläubiger beraubt sein wird, die uns tiefgründigere Einsichten in die Bedeutung der Lehren des Glaubens geben könnten. Aber keine dieser Arten von Auslegung, egal wie gelehrt der sie zum Ausdruck bringende Gläubige auch sei, ist maßgebend. Obwohl sie uns aufklären können, ist da immer die Unvermeidbarkeit eines gewissen Grades an Fehlerhaftigkeit. Laßt uns nie das Beispiel der christlichen Sendung vergessen. Das Evangelium ist voll mit Prophezeiungen und Warnungen Jesu über seine Wiederkunft. Christen haben sich fast 2000 Jahre lang darum bemüht, sie zu verstehen. Die Gelehrten haben viele Auslegungen und Übereinkünfte darüber erarbeitet, was geschehen würde, aber ich wüßte von keiner, die zu dem rechten Schluß gekommen wäre, nämlich daß sie das Erscheinen einer weiteren Manifestation Gottes ankündigen.
Maßgebliche, göttlich geführte Auslegung gehört einer völlig anderen Ordnung an, als wir in Betracht gezogen haben, und ist ausschließlich die Aufgabe des Meisters und des Hüters.
2. Maßgebende Auslegung und göttlich geführte Gesetzgebung
Das Vorrecht der maßgebenden Auslegung, daß von Bahá'u'lláh erst Ábdu'l-Bahá und nach ihm dem Hüter verliehen wurde, liegt im Herzen des Bundes.
In früheren Sendungen wurde keine klare Unterscheidung zwischen Auslegung und Gesetzgebung getroffen. Die zwei Aufgaben waren unter einem einzigen Vorgang des Herleitens von Schlußfolgerungen und der Führung in neuen Situationen aus dem Studium der heiligen Schriften zusammengefaßt. Weil man glaubte, diese Herleitungen seien ein Vorgang des Deutlichmachens dessen, was unausgesprochen im Text inbegriffen war, waren sie praktisch unveränderlich und verwandelten sich in eine massive Häufung von Dogmen, Ritualen und Gesetzen. Im Judentum wurden sie in erster Linie zu einer Vielzahl von minutiösen Verordnungen, die jeden Moment und jeden Aspekt im Leben einer Person regulierten, und denen zu gehorchen als identisch mit dem Gehorsam vor Gott begriffen wurde. Das Christentum befreite sich weitgehend davon, ersetzte sie aber durch die Errichtung eines gewaltigen Bauwerks von Dogmen, an die zu glauben als wesentlich für das ewige Heil der Seele aufgefaßt wurde, und das zu solchen Mißbräuchen wie dem Ablaßhandel führte, der die Rebellion Martin Luthers und der protestantischen Reformation heraufbeschwor.
In dieser Sendung haben wir zwei getrennte, göttlich geführte Gewalten, eine um maßgebende Auslegung zu schaffen, und eine für ergänzende Gesetzgebung. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Aufgaben wurde durch das Universale Haus der Gerechtigkeit in seinem Brief vom 9. März 1965 erklärt. Auf den Seiten 52 und 53 von "Wellspring of Guidance" findet sich die folgende Textstelle:
"Der Hüter offenbart, was die Schrift bedeutet; seine Auslegung ist eine Darlegung der Wahrheit, die nicht abgeändert werden kann. Dem Universalen Haus der Gerechtigkeit wurde, in den Worten des Hüters, das alleinige Recht der Gesetzgebung über Gegenstände verliehen, die nicht ausdrücklich in den Bahá'í-Schriften offenbart sind. Seine Verkündigungen, welche durch das Universale der Gerechtigkeit selbst abgeändert oder aufgehoben werden können, dienen der Ergänzung und bringen das Gesetz Gottes zur Anwendung. Obwohl nicht mit der Aufgabe der Auslegung betraut, ist das Universale Haus der Gerechtigkeit doch in einer Position, um alles nötige zur Errichtung der Weltordnung Bahá'u'lláhs auf dieser Erde zu tun."
Eine wichtige Konsequenz dieser Unterscheidung ist, daß es, wenn wir eine Frage darüber haben, was wir glauben sollen, oder was der Text bedeutet, und dies nicht im Text selbst für uns beantwortet ist, während der Abwesenheit des Hüters niemanden gibt, der uns maßgebend und verbindlich antworten könnte. Wenn wir dagegen in irgendeinem Fall wissen wollen, was wir tun sollen, ist das Universale Haus der Gerechtigkeit voll ermächtigt, göttliche Führung bezüglich dieses Gegenstandes zu geben.
Zwei andere wichtige Konsequenzen sind das Verbot der Formulierung von Dogmen und Bekenntnissen im Glauben (die gibt es schließlich, aber die Menschen versuchen, die göttlichen Wahrheiten in einem Paket zusammenzuschnüren und sind für immer zur Unzulänglichkeit verdammt), und die Erkenntnis des tiefgreifenden Unterschiedes zwischen den wirklich von der Manifestation Gottes gegebenen Gesetzen, die nur von einem weiteren Propheten geändert werden können, und jenen, die zu erlassen dem Universalen Haus der Gerechtigkeit eingegeben ist, und die das Haus der Gerechtigkeit selbst aufheben kann. Dies gibt dem Bahá'í-Rechtssystem einen beispiellosen Grad an Elastizität.
Es gibt natürlich eine hierarchische Beziehung zwischen der Auslegung des Hüters und der Gesetzgebung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit. Die höchste Autorität im Glauben ist das Wort Gottes, und alle Gesetzgebung ist durch diese Autorität begrenzt. Der maßgebende Ausleger ist das lebende Mundstück dieses Wortes, der Erklärer seiner wahren Bedeutung. Daher hat er natürlich die Autorität, den Bereich der Gesetzgebung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit festzulegen. Shoghi Effendi hat kategorisch erklärt, daß weder der Hüter noch das Universale Haus der Gerechtigkeit sich jemals die Aufgabe des anderen anmaßen werden. Beide stehen schließlich unter dem Schutz und der unfehlbaren Führung des Báb und Bahá'u'lláhs. Daher können wir sicher sein, daß das Universale Haus der Gerechtigkeit auch in Abwesenheit des Hüters keine Gesetze außerhalb seines Geltungsbereiches erlassen wird. Ich halte es dagegen für möglich, daß das Universale Haus der Gerechtigkeit in seiner Vorsicht, seine Grenzen nicht zu überschreiten, sehr wohl davon Abstand nehmen könnte, Gesetze auf Gebieten zu erlassen, von denen der Hüter uns gesagt haben könnte, daß sie in seine Sphäre gehören, wenn er bei uns wäre. Es gibt zwei interessante Beispiele für das, was ich meine.
Wie Sie wissen, ist sowohl im Christentum als auch im Bahá'í-Glauben Mord verboten. Es ergibt sich dann die Frage, ob Abtreibung und Euthanasie zulässig sind oder nicht. Die katholische Kirche hat beschlossen, daß das Gesetz eindeutig ist, "Du sollst nicht töten", und daß daher beides verboten ist. Im Bahá'í-Glauben haben wir aber Stellungnahmen des Hüters zu beiden Fragen. In beiden Fällen sagt er, daß sich nichts bestimmtes dazu in den Schriften findet - was impliziert, daß sie nicht ganz dasselbe sind wie Mord. Es folgen drei Stellungnahmen im Auftrag des Hüters, die sich auf diese Themen beziehen:
Am 25. August 1939: "Die Praxis der Abtreibung - die absolut kriminell ist, da sie die vorsätzliche Zerstörung von Leben einschließt - ist in der Sache verboten. Hinsichtlich 'Gnadentod' ...; auch dies ist eine Angelegenheit, über die das Universale Haus der Gerechtigkeit Gesetzte erlassen müssen wird."
Am 13. November 1940: "Hinsichtlich der Praxis der Abtreibung; da zu diesem Thema keine besondere Anspielung in den Schriften Bahá'u'lláhs gemacht wurde, obliegt es dem Universalen Haus der Gerechtigkeit, dazu entscheidend Stellung zu nehmen. Es kann indessen kein Zweifel darüber bestehen, daß diese Praxis, da sie die Zerstörung menschlichen Lebens einschließt, energisch verurteilt werden muß."
Am 20. Oktober 1953: "Da sich nichts bestimmtes zum Thema Abtreibung in den Bahá'í-Schriften findet, wird sich folglich das Universale Haus der Gerechtigkeit damit auseinandersetzten müssen, sobald diese Körperschaft gebildet worden ist."
Auf der Grundlage dieser drei Stellungnahmen hat das Universale Haus der Gerechtigkeit verfügt, daß das Vornehmen einer Abtreibung nur zu dem Zweck, sich eines unerwünschten Kindes zu entledigen, unbedingt verboten ist, aber es mag Fälle geben, in denen Abtreibung erlaubt sein könnte, und hierfür muß das Universale Haus der Gerechtigkeit Gesetze erlassen. Solange ein solches Gesetz noch aussteht, ist die Entscheidung unter Berücksichtigung der o.g. Prinzipien und des fachkundigen ärztlichen Rates dem Gewissen des Einzelnen überlassen.
Ein anderes Gebiet betrifft die Pflichtgebete. In der dreizehnten Frohen Botschaft sagt Bahá'u'lláh: "Alle Staatsgeschäfte sind dem Haus der Gerechtigkeit vorzulegen; aber Gottesdienste müssen so gehalten werden, wie es Gott in Seinem Buch offenbart hat". Als einmal ein Gläubiger das Universale Haus der Gerechtigkeit bat, ein Gebet zu bestimmen, das für das Haus der Gerechtigkeit gesprochen werden könnte, bezog es sich auf diesen Text und lehnte eine solche Bestimmung ab. Man könnte auch meinen, daß dieser Text es dem Haus der Gerechtigkeit unmöglich gemacht hätte, irgendwelche Fragen über Pflichtgebete zu beantworten, aber der Hüter schrieb, daß Einzelheiten bezüglich der Pflichtgebete, die unklar sind, durch das Universale Haus der Gerechtigkeit zu entscheiden sind, und bestimmte damit genau, welcher Aspekt dieses Gegenstandes innerhalb seines Gesetzgebungsbereiches liegt.
3. Die Aufgabe der Auslegung
Die Art und Weise, in der Shoghi Effendi seine Aufgabe als Ausleger wahrgenommen hat, ist höchst erhellend, sowohl im Bezug auf unser Verständnis darüber, was maßgebende Auslegung impliziert, als auch im Hinblick auf unser Verständnis von der Unfehlbarkeit des Heiligen Textes, ein Gegenstand, der in früheren Sendungen heftig mißverstanden wurde. Die nun folgenden Zitate stammen aus Briefen von Sekretären des Hüters, die in seinem Auftrag geschrieben wurden.
3.1 In einigen Fällen gab Shoghi Effendi einfach klare Stellungnahmen darüber ab, was ein bestimmter Abschnitt bedeutet, zum Beispiel:
- Hinsichtlich Ihrer Fragen: Was der Meister mit den von Ihnen zitierten Worten meinte ist einfach, das Freude uns mehr Freiheit zur Gestaltung gibt. Wenn die Propheten, der Meister selbst und der Hüter weniger Probleme und Sorgen gehabt hätten, dann hätten Sie sehr viel mehr Schöpferkraft für die Sache hervorbringen können. Wenn er sagte, "wachse, um ein fruchtvoller Baum zu werden", meinte er, daß wir, indem wir die Last des Hüters erleichtern und so stark wie möglich versuchen, unseren Anteil an der Arbeit des Glaubens zu tun, Shoghi Effendi helfen würden, seine volle Macht als Hüter zu entfalten, und durch den Bund würde die Sache ihren Schatten über alle Menschen ausbreiten. Dies haben wir in den letzten 30 Jahren geschehen sehen, aber das heißt nicht, daß wir nicht aufs Äußerste versuchen müssen, ihm durch unser Leben des Dienstes zu helfen. (05.10.1952 - Sekr.)
- Das im Sendschreiben des Meisters erwähnte "Rheuma" ist symbolisch gemeint. Er meint, daß die Menschen eine geistige Erkältung haben und die göttlichen Düfte nicht riechen können, und daß die Gläubigen die Ärzte sein müssen, die Menschen von diesem Zustand zu heilen. Er bezieht sich nicht auf körperliche Leiden. (26.03.1950 - Sekr.)
- Der Meister benutzt den Ausdruck "die göttliche Wirklichkeit ist geheiligt über Einheit", um uns nachdrücklich die Tatsache einzuprägen, daß die Gottheit nicht erkannt werden kann und es unmöglich ist, Sie zu bestimmen. Wir können sie nicht in Begriffe fassen wie Einheit und Vielheit, die wir auf Dinge anwenden, die wir kennen und erfahren können. Er gebraucht die Methode, die Betonung zu übertreiben, um seinen Gedanken zu verdeutlichen, daß wir die Sonne indirekt durch ihre Strahlen kennen, die Gottheit durch die Manifestation Gottes. (20.02.1950 - Sekr.)
- Gl. 160 - Die menschliche Seele ist in dem Sinne ein "Vorbote", als daß sie uns eine leise Ahnung von der Existenz anderer Welten gibt, eine Andeutung der geistigen Welten im Jenseits. (25.05.1938 - Sekr.)
- Die "Feuerflamme" im Tablet an Ahmad sollte bildlich verstanden werden. Mit anderen Worten: Wir dürfen nicht den schlechten Einfluß von Bundesbrechern oder Feinden des Glaubens tolerieren, sondern müssen kompromißlos in unserer Loyalität sein, darin, sie zu entlarven und den Glauben zu verteidigen. (21.07.1955 - Sekr.)
- Der Ausdruck "Er, der sich in der Entfernung zweier Bogenlängen befindet" in "Ährenlese" Nr. 29 sollte nicht wörtlich genommen werden, sondern hat eine allegorische Bedeutung, und deutet dichte Nähe an. (12.04.1938 - Sekr.)
- Verborgenen Worte, persisch 79 - Der Ausdruck "Meine schwarzen Locken zu kämmen, und nicht, Meine Kehle damit zu verwunden" ist eine allegorische Warnung Bahá'u'lláhs davor, etwas von dem zu mißbrauchen, was Er der Welt geschenkt hat (06.09.1937 - Sekr.)
In Kalimát-i-Firdawsíyyih sagt Bahá'u'lláh: "Wir bestimmten bereits, daß die Menschen sich in zwei Sprachen verständigen sollten; aber es müssen Anstrengungen unternommen werden, sie auf eine zu beschränken, ebenso die Schriftarten der Welt, damit die Menschen nicht mit dem Erlernen verschiedener Sprachen ihr Leben verschwenden und vergeuden. So wird schließlich die ganze Erde als eine Stadt und ein Land betrachtet." Ein Gläubiger fragte den Hüter, in welcher Beziehung dies zu Bahá'u'lláhs Gebot steht, daß eine internationale Hilfssprache ausgewählt und in allen Schulen zusätzlich zur Muttersprache unterrichtet werden soll. Die Antwort war:
- Bahá'u'lláh bezieht Sich auf dem achten Blatt des Erhabensten Paradieses auf eine Zeit in ferner Zukunft, wenn die Welt wirklich ein Land, und eine einzige Sprache eine fühlbare Möglichkeit geworden ist. Es widerspricht nicht Seinen Anweisungen bezüglich der sofortigen Notwendigkeit einer Hilfssprache. (16.03.1955 - Sekr.)
Aus diesen besonderen Auslegungen lernen wir nicht nur, was ein bestimmter Abschnitt bedeutet, sondern wir erhalten Anschauungsunterricht im Studium der Schriften. Wir sehen, daß einige Abschnitte wörtlich zu nehmen sind, andere allegorisch. Einige sind sogar stilistische Übertreibungen, um eine beabsichtigte Wirkung hervorzurufen, und einige beziehen sich auf eine unterschiedliche Stufe in der Entwicklung der Sendung als andere.
3.2 Manchmal ging der Hüter erheblich über eine kurze Auslegung des fraglichen Abschnittes hinaus, so wie in dieser wunderschönen Beschreibung des kurzen Pflichtgebetes:
- Die Bedeutung des von Herrn Lacey in seinem Brief erwähnten kurzen Gebetes ist einfach, daß Bahá'u'lláh in einen kurzen Satz das wahre Wesen des Lebens hineingetan hat, was bedeutet, daß wir von einem Vater kommen und auf der Straße des Lebens durch Prüfungen, Versuchungen und Erfahrungen gehen, damit unsere Seelen wachsen mögen, und daß es der Grund für unser Sein ist, zu lernen, unseren Schöpfer zu verstehen. Während wir dies tun, werden wir unsere Liebe zu ihm vermehren und Ihn anbeten.
Dies ist wirklich die tiefste Freude, eine jegliche Seele erfährt. Alle anderen sind nur Widerspiegelungen dieser Freude, der Freude die wir erfahren, wenn wir den Gott anbeten, der uns gemacht hat, unseren Himmlischen Vater . (05.10.1953 - Sekr.)
3.3 Manchmal entfaltete er einen ganzen Gedankengang aus nur einem keimhaft angelegten Hinweis in den Schriften. Es gibt zum Beispiel seine Festlegung des Námús-i-Akbar (des Größten Gesetzes) als der Bildung der Nationalen Geistigen Räte, und des Námús-i-A'zám (des Größten Gesetzes) als der Bildung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit. Die Entfaltung der Institution der Hände der Sache Gottes und ihrer Hilfsämter ist zweifellos ein weiteres Beispiel des selben Vorgangs.
3.4 Auf der anderen Seite gibt es viele Beispiele für Gegenstände, deren Auslegung er ablehnte, da hierzu nichts genaues in den Texten zu finden war. Zum Beispiel:
- Wir haben keine Möglichkeit herauszufinden, welche Wissenschaft Bahá'u'lláh meinte, als er sagte, daß sie Angst weitgehend beseitigen würde. Da dies an keiner anderen Stelle in den Lehren erwähnt wurde, kann der Hüter nichts aus dieser Aussage erkennen. Dies zu tun würde von seiner Aufgabe als Ausleger wegführen. Er kann nichts außer den gegebenen Lehren offenbaren . (30.08.1952 - Sekr.)
- Bezüglich der Punkte aus dem "Brief an den Sohn des Wolfes" (S. 32 der englischen Ausgabe), die Sie erwähnen: Diese wurden, soweit wir wissen, niemals durch Bahá'u'lláh weiter ausgeführt; sie blieben verborgen in den Reichen Seines unendlichen Wissens, ebenso wie die universale Sprache, die Er in dem selben Buch erwähnt. (15.08.1942 - Sekr.)
- Bezüglich ihrer Frage hinsichtlich der Möglichkeit, künstliches Leben mit Hilfe eines Inkubators zu schaffen: Dies ist im wesentlichen eine Frage, welche die Wissenschaft angeht und sollte als solche von Wissenschaftlern untersucht und studiert werden. (31.12.1937 - Sekr.)
3.5 Dies führt uns zur vom Hüter selbst getroffenen Festlegung der Grenzen der Sphäre seiner Unfehlbarkeit als Ausleger.
- Shoghi Effendi ist nur unfehlbar, wenn er die Worte auslegt. Er hält es für Häresie, ihm eine Stufe gleich der Bahá'u'lláhs oder auch nur des Meisters beizumessen. Sein Rang ist der des Hüters der Sache Gottes und des Präsidenten des Hauses der Gerechtigkeit und des Auslegers der Worte und nichts anderes. Er lehnt jeden anderen Rang gänzlich ab, den die Freunde ihm in ihrer großen Liebe fälschlicherweise zuschreiben mögen. (18.09.1938 - Sekr.)
- Die dem Hüter eigenen Kräfte sind nicht unbegrenzt und unterscheiden sich von denen, die der Meister besaß. Aber der Grad der Führung, den Gott ihm zu verleihen geruhen mag, ist unbegrenzt, da er von Bahá'u'lláh kommt, und nicht von ihm selbst. Jedes außerordentliche Anzeichen von Wissen oder Eingebung, daß er bei einigen Gelegenheiten zeigen mag, darf nicht den ihm eigenen Kräften, denen des Meisters verwandt, zugerechnet werden, sondern vielmehr einem Ausdruck des Willens Bahá'u'lláhs, ihn aus Ihm eigenen Gründen bei dieser Gelegenheit zu führen. Der Hüter ist der unfehlbare Ausleger des Wortes Gottes. Seine Worte sind nicht die Worte Gottes selbst. Aber seine Auslegung ist so bindend wie das Wort.
(20.11.1941 - Sekr.)
- Der Hüter möchte von den Freunden mit Fakten versehen werden, wenn sie um seinen Rat bitten, denn obwohl seine Entscheidungen von Gott geführt sind, ist er nicht, wie der Prophet, nach Belieben allwissend, ungeachtet der Tatsache, daß er oft eine Situation oder Umstände erfühlt, ohne Einzelheiten davon zu kennen. (04.03.1948 - Sekr.)
- Über etwas, was nicht in den Lehren zu finden ist, äußert sich der Hüter nicht. Dies sind Gegenstände für Wissenschaftler und Fachleute. (29.09.1953 - Sekr.)
Eine Folge des Willens und Testamentes, die nicht aus den Augen verloren werden darf, ist der ausdrückliche Befehl an die Freunde, dem Hüter und dem Universalen Haus der Gerechtigkeit zu gehorchen. Dies mag mit ihren Aufgaben der göttlich geführten Auslegung und Gesetzgebung im Zusammenhang stehen, aber es ist nicht unbedingt dasselbe und kann in anderem Zusammenhang Anwendung finden, wie sich an den folgenden Erklärungen aus im Auftrag Shoghi Effendis geschriebenen Briefen zeigt.
- Was den ausdrücklichen Befehl des Meisters hinsichtlich des Gehorsams gegenüber dem Hüter angeht, muß klar gemacht werden, daß die Frage, zu entscheiden, welche Angelegenheiten Gehorsam gegenüber dem Hüter verlangen, eine ist, über die der Letztgenannte allein das volle Recht zur gewissenhaften Entscheidung hat. Mit anderen Worten obliegt es dem Hüter festzustellen, ob eine bestimmte Handlung schädlich für die Sache ist oder nicht, und ob sie nach seinem persönlichen Eingreifen verlangt. Es ist nicht Sache der einzelnen Gläubigen, die Sphäre der Autorität des Hüters einzuschränken, oder zu beurteilen, wann sie dem Hüter gehorchen müssen und wann sie die Freiheit haben, sein Urteil zurückzuweisen. Solch eine Haltung würde offensichtlich zu Verwirrung und Spaltung führen. Es liegt in der Verantwortung des Hüters als ernanntem Ausleger der Lehren festzustellen, welche Angelegenheiten, da sie die Interessen des Glaubens berühren, auf Seiten der Gläubigen völligen und uneingeschränkten Gehorsam seinen Anweisungen gegenüber verlangen. (27.11.1933 - Sekr.)
- Die Unfehlbarkeit des Hüters ist auf Angelegenheiten beschränkt, die sich streng auf die Sache und die Auslegung der Lehren beziehen; er ist keine unfehlbare Autorität für andere Gegenstände, wie Ökonomie, Wissenschaft usw.. Wenn er meint, daß etwas Bestimmtes wesentlich für den Schutz der Sache ist, auch wenn es etwas ist, was jemanden persönlich betrifft, ist ihm zu gehorchen, aber wenn er Ratschläge gibt, so wie er ihn Ihnen in einem früheren Brief über Ihre Zukunft gegeben hat, sind sie nicht bindend; Sie sind frei, dem zu folgen oder nicht, wie es Ihnen gefällt. (17.10.1947 - Sekr.)
- Künftige Hüter ... können die Auslegungen früherer Hüter nicht 'abschaffen', da dies nicht nur einen Mangel an Rechtleitung, sondern Fehler bei ihrer Schaffung implizieren würde; indessen können sie frühere Auslegungen ausführen und erklären, und sie können sicherlich frühere Regelungen abschaffen, die als eine vorübergehende Notwendigkeit durch einen früheren Hüter niedergelegt wurden. (19.02.1947 - Sekr.)
3.6 Ich finde es nun sehr interessant, daß alle Zitate, die ich bisher angeführt habe, und die zum größten Teil das sind, was in früheren Sendungen "Auslegung" umfaßte, in den Worten der Sekretäre des Hüters abgefaßt sind. Er selbst widmete seine Aufmerksamkeit hauptsächlich einem anderen Bereich, nicht der Erklärung unklarer Textstellen oder der Festlegung in den Schriften benutzter Begriffe, sondern der Erhellung der Gesamtbedeutung der Offenbarung. Er pflegte bestimmte Themen zu nehmen, wie das Wesen und die Bedeutung der Bahá'í-Lebensart, die Theorie und Funktion der Bahá'í-Institutionen, die Beziehung der Sache zu aktuellen Ereignissen und ihr Platz in der Geschichte der Menschheit, die Stufe der Manifestationen Gottes und ihre Beziehungen zueinander, die Stufe des Meisters, die Bestimmung gewisser Bahá'í-Gemeinden, den richtigen Weg, die Sache zu lehren, und dann mit eigener Hand lange Briefe zu schreiben, die, wie das Band einer Halskette, Zitate des Báb, Bahá'u'lláhs und des Meisters zusammenführten und die Quellen zeigten, aus denen die Ideen hervorsprudelten, sowie die Folgen und die Wichtigkeit jener Textstellen und die Taten, die sie von den Gläubigen forderten.
Dies ist in meinen Augen der größte Aspekt der Aufgabe des Hüters als Ausleger. Diese Offenbarung ist so enorm, so tiefgreifend, daß die Gläubigen wie ein Nichts in den Untiefen dieses weiten Meeres kämpfen müßten. Er war es, der den Fußstapfen des Meisters folgend diejenigen Aspekte der Sache, die unsere sofortige Aufmerksamkeit erfordern, zusammenzog, ihre Beziehung zu den weitreichenden Folgen der gesamten Offenbarung zeigte, deren Reichtümer wir nur anfangen zu kosten, und uns einen Ausblick über unsere Arbeit in der fernen Zukunft gab, bis ans Ende dieser Sendung und darüber hinaus.
3.7 In "Die Sendung Bahá'u'lláhs" schrieb Shoghi Effendi daß "ohne eine Institution" wie dem Hütertum "die benötigten Mittel" dem Glauben "zu ermöglichen, einen langen, ununterbrochenen Ausblick über eine Folge von Generationen hinweg zu tun, gänzlich fehlen würde." Ich hörte, wie Freunde diese Stellungnahme in Beziehung zu der Tatsache gesetzt haben, daß das Hütertum eine erbliche Institution ist, und daß es dieser Faktor der Erblichkeit wäre, der die Mittel für den Glauben bereitstellen würde, diesen weiten Ausblick zu tun.
Ich habe indessen nirgendwo in den Schriften des Hüters gesehen, daß dieses Argument gebracht würde, und es scheint mir, daß, obwohl natürlich ein Körnchen Wahrheit in dieser Annahme steckt, die bloße Tatsache, daß jeder Hüter seinem Vater im Amt gefolgt wäre, keine angemessene Grundlage für die Ausübung einer so anspruchsvollen Funktion zu sein scheint. Die Funktion des erleuchteten Auslegers impliziert dies aber. Als Ausleger ist der Hüter in der Lage, nicht nur die äußerliche Bedeutung der Schriften zu verstehen, sondern ihre inneren Zusammenhänge. Obwohl andere durch das Studium der Schriften und des Fortschrittes der menschlichen Angelegenheiten eine Ahnung davon bekommen können, wie die Gesellschaft sich entwickeln wird, konnte nur der Hüter allein das ganze Panorama der Absicht Bahá'u'lláhs klar schauen und für uns den Weg skizzieren, den die Manifestation Gottes vor uns liegen sieht. Dies hat Shoghi Effendi tatsächlich in seinen Briefen zur Weltordnung getan und auch in "Gott geht vorüber". Das Letztgenannte ist nicht nur ein Geschichtsbuch, so großartig es in dieser Hinsicht auch sein mag, es ist auch ein erleuchteter Kommentar zu den Ereignissen, die es erzählt, es erhellt die Vergangenheit, fordert uns in der Gegenwart heraus uns gibt uns eine Vision der Zukunft.
Diese Schriften wurden schon durch Beraterin Isobel Sabri in ihrem Vortrag vor zwei Wochen wundervoll beschrieben.
(Von Ian Sample in einem Seminar am 18. Februar 1984 gehaltener Vortrag)
Hanno Lenk 07.12.1995, nicht überprüfte Übersetzung
Bahá'u'lláh, Boschaften aus Akká
(R.Zimmel 12.06.2003) Seite 8 von 8
Martin Luther und die Reformation
Fünfzehn Jahrhunderte nach Christus wandte sich Luther, ... der Begründer des protestantischen Glaubens, gegen den Papst, und zwar wegen gewisser Lehraussagen wie des Eheverbots für Mönche, des verehrungsvollen Niederbeugens vor den Bildern von Aposteln und christlichen Führern der Vergangenheit sowie wegen verschiedener anderer religiöser Praktiken und Bräuche, die den Geboten des Evangeliums hinzugefügt worden waren. Obwohl zu jener Zeit die Macht des Papstes so groß war und er mit solcher Ehrfurcht behandelt wurde, dass die Könige Europas vor ihm zitterten und bebten, obwohl der Papst alle wichtigen Belange Europas kontrollierend im Griff hielt, haben doch in den letzten 400 Jahren die Mehrheit der Bevölkerung Amerikas, vier Fünftel von Deutschland und England und ein großer Prozentsatz von Österreichern, alles in allem etwa hundertfünfundzwanzig Millionen Menschen, andere christliche Bekenntnisse verlassen und sind in die protestantische Kirche eingetreten, weil Luthers Einstellung in der Frage der Freiheit von Religionsführern zur Heirat, in seiner Abkehr von der Anbetung und vom Niederknien vor Bildern und Heiligenfiguren, die in Kirchen hingen, und in der Abschaffung von Zeremonien, die dem Evangelium beigefügt worden waren, nachweislich richtig war, ferner weil die richtigen Mittel ergriffen wurden, seine Ansichten zu verbreiten. ... Auch wenn nicht klar wurde, welche Zielvorstellung jenen Mann vorantrieb oder wozu er neigte, seht nur den Eifer und die Mühe, mit der die protestantischen Führer seine Lehren weit und breit verkündet haben!
('Abdu'l-Bahá, Das Geheimnis göttlicher Kultur, S. 45-46)
Unter späteren Geschlechtern [erhoben sich] Stimmen des Protests ... gegen eine selbsternannte Amtsgewalt, die sich Vorrechte und Vollmachten, welche nicht aus dem klaren Text des Evangeliums Jesu Christi hervorgingen, anmaßte und damit eine schwerwiegende Abweichung vom Geist dieses Evangeliums darstellte. Mit aller Macht und vollem Recht führten diese Stimmen des Protestes aus, die kanonischen Schriften, wie sie von den Kirchenkonzilien verkündet wurden, seien keine gottgegebenen Gesetze, vielmehr nur menschliche Vorkehrungen, die nicht einmal auf tatsächlichen Äußerungen Jesu beruhten. Ihre Beweisführung kreiste um die Tatsache, dass die ungenauen, kaum beweiskräftigen Worte Christi an Petrus: "Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will Ich Meine Kirche bauen", niemals die extremen Zwangsmittel, das kunstvolle Zeremoniell, die einengenden Dogmen und Glaubenssätze rechtfertigen könnten, mit denen Seine Nachfolger Schritt für Schritt Seinen Glauben überbürdet und verfinstert haben. Wäre es den Kirchenvätern, deren ungerechtfertigte Autorität so von allen Seiten heftig angegangen wurde, möglich gewesen, die auf ihr Haupt gehäuften Anklagen dadurch zu widerlegen, dass sie bestimmte Äußerungen Christi zur künftigen Verwaltung Seiner Kirche oder zum Wesen der Amtsmacht Seiner Nachfolger hätten anführen können, dann wären sie sicherlich in der Lage gewesen, die Flammen des Streites zu löschen und die Einheit der Christenheit zu erhalten. Das Evangelium aber, die einzige Schatzkammer der Äußerungen Christi, bot den gequälten Kirchenführern keinen derartigen Schutz.
(Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá'u'lláhs, S. 39-40)
[Shoghi Effendi beschreibt in einer von ihm verfassten Botschaft an eine internationale Bahá'í-Konferenz in Schweden Europa u.a. als den Kontinent] in dessen Herzen das Licht der Reformation so hell leuchtete und seine Strahlen bis zu den abgelegensten Regionen des Erdballs verbreitete ...
(Shoghi Effendi, Hüterbotschaften an die Bahá'í-Welt, S. 23)
Der Beitrag, den die Reformation wirklich geleistet hat, ist, das Gebäude, das die Kirchenväter sich selbst errichtet hatten, ernsthaft herausgefordert und teilweise ins Wanken gebracht und den gänzlich menschlichen Ursprung der kunstvoll ausgearbeiteten Lehren, Zeremonien und Institutionen entlarvt zu haben, die sie ersonnen hatten. Die Reformation war eine notwendige Infragestellung der menschengemachten Struktur der Kirche – und als solche ein Fortschritt. In ihren Ursprüngen war sie eine Reflexion des neuen Geistes, den der Islam freigesetzt hatte, und eine von Gott gesandte Strafe für jene, die es versäumt hatten, seine Wahrheit anzunehmen.
(Aus einem Brief im Auftrag Shoghi Effendis an einen einzelnen Gläubigen, 28.12.1936 [e.Ü.])
Haltung der Bahá'í gegenüber den christlichen Konfessionen
Während die Zugehörigkeit zu kirchlichen Organisationen nicht statthaft ist, sollte die Zusammenarbeit mit ihnen nicht nur toleriert, sondern sogar gefördert werden. Auf keine bessere Art und Weise kann man die Universalität der Sache demonstrieren. Bahá'u'lláh drängt in der Tat Seine Anhänger, sich mit allen Religionen und Nationen in äußerster Freundlichkeit und Liebe zu vereinigen. Dies bildet den wirklichen Geist Seiner Botschaft an die Menschheit.
(Aus einem Brief im Auftrag Shoghi Effendis an einen Nationalen Rat, 11.12.1935 [e.Ü.])
Die Kirchen predigen Lehren – völlig verschiedene in den jeweiligen Konfessionen – die wir als Bahá'í nicht annehmen können; so wie die leibliche Auferstehung, die Beichte oder, in manchen Bekenntnissen, die Leugnung der Jungfrauengeburt. In anderen Worten: Es gibt heutzutage keine Christliche Kirche, von deren Dogmen wir als Bahá'í behaupten könnten, dass wir sie in ihrer Gesamtheit akzeptieren.
(Aus einem Brief im Auftrag Shoghi Effendis an einen Lokalen Rat, 24.06.1947 [e.Ü.])
Der Hüter stimmt mit Ihnen überein, dass die Bahá'í sehr vorsichtig sein sollten, nicht die Kirche zu kritisieren oder gar anzugreifen. Da wir glauben, dass die Römisch-Katholische Kirche, wenn Sie so wollen, die Erbin der Lehren Christi in direkter Linie ist, wenngleich sie durch menschengemachte Dogmen entstellt worden sein mag, wäre es uns gewiss kein Gewinn, ihr Feindschaft entgegenzubringen.
(Aus einem Brief im Auftrag Shoghi Effendis an einen einzelnen Gläubigen, 22.03.1950 [e.Ü.])
Prozesse führen kann jeder
Referent. Dr. Thomas Floeth
Ein Blick in die Geschichtsbücher suggeriert dem Leser: Die Geschicke der Menschheit liegen in der Hand von „Führern“, seien es Kaiser, Könige, Fürsten, Stammeshäuptlinge oder manchmal auch geniale Wissenschaftler.
Anderseits scheint in jüngster Zeit ein anderer Wind zu wehen: da ist von Teams die Rede, hinter jedem Führer tauchen eine Gruppe von Beratern auf, an der Seite dominierender Männern werden nicht unbedingt dominierende, gleichwohl aber erfolgreiche Frauen sichtbar usw..
Wohin weht dieser Wind? Und was hat er zu bedeuten?
Diesen Fragen möchte der Vortrag nachgehen. Nach einem Rückblick auf die Vergangenheit will er herausarbeiten, welcher Art Leitung und Führung unsere Zeit braucht. Er zeigt, dass die heutige Entwicklung am ehesten in einem Prozessdenken verstanden werden kann. Ein Prozess wird jedoch nicht durch einen traditionellen Führer gesteuert sondern durch alle Prozessteilnehmer und zwar jeweils durch denjenigen, der ihm zur Zeit am besten dienen kann. Die Anführer von Prozessen sind wir alle im Zweifelsfall also selbst – mit gravierenden Folgen für die Weltgeschichte, aber auch für uns ganz persönlich: für unsere Arbeitswelt, unsere Partnerschaften, unser Familienleben usw..
Über diese Ideen und die konkreten Konsequenzen für unser Leben möchte der Autor gerne mit den Besuchern ins Gespräch kommen.
Vorrede
Was soll das ganze Gerede von den Prozessen?
- Ein neues Modewort, um zu zeigen, dass alles noch komplizierter ist als erwartet?
- Oder dass niemand so recht Schuld hat an dem was gerade passiert:
Die Trennung in einer Ehe liegt nicht daran, dass ein Mann seine Frau hintergeht. Nein, es war ein Prozess, innerhalb dessen die beiden sich auseinandergelebt haben „ Wissen Sie, das Ganze ist so im Laufe eines langen Prozesses entstanden ....“ – so einfach ist das ...
Also: Das Ende aller Verantwortung dank Prozessdenken? Wer Bahá'í kennt, weiß, dass die so nicht denken. Immerhin geht es in der Bahá'í-Religion wie in jeder anderen Weltreligion darum, eine neue (oder auch sehr alte) Ethik in der Welt wirksam werden zu lassen. Und Ethik hat immer etwas mit Verantwortung zu tun.
Ich behaupte, dass auch in jedem Prozess persönliche Verantwortungen zentral ist, dass Prozesse nicht einfach ablaufen, sondern von Menschen geführt werden. Und dass es sich hierbei um eine ganz besondere Art von Führung handelt.
Ich möchte heute Abend zeigen:
- dass es gar nicht dumm ist, in Prozessen zu denken.
- welche Folgen ein solches Denken hat und besonders
- wie in einem solchen Denken Führung und Verantwortung neu verortet werden können.
- und welche Folgen das für unseren Alltag haben kann.
Die Reise, auf die ich Sie mitnehmen möchte hat 4 Stationen:
I. Prozess: Wachstum, Systemlogik und Sachzwänge
II. Führung: traditionelle Führungsstile und der demokratische Führungsstil
III. Prozess-Führung
IV. Die ethische Prozessführung
I. Das Prozessdenken
Woher kommt dieses Denken eigentlich überhaupt und was will es bedeuten?
1. Wachstumsdenken.
Eigentlich ist das Denken in Prozessen des Wachstums sehr alt.
Jeder Landwirt oder Hobbygärtner kennt sich darin aus.
Ein Gärtner, der einen Apfelbaum pflanzt, wird motiviert vom Wissen um die Früchte. Er kann jedoch an den Früchten, dem Ergebnis eines Wachstumsprozesses, nichts ändern. Nur den Prozess des Wachstums selbst kann er beeinflussen
Hinderlich sind dabei:
Ungeduld: es gibt keine Abkürzungen, Trockenheit, Schädlinge, Sturm,
Förderlich sind dagegen:
Wasser, Dünger, Sonne, Beschneiden, Veredeln, Liebe / Zuwendung, Befruchtung, Schutz, Stütze
Was schadet dem Prozess: Die Illusion der Abkürzung!!
Die Idee, sofort Früchte zu bekommen, ein Leben nur auf der sonnigen Seite des Lebens usw.; führt zur eigenen Lösungsunfähigkeit/-unwilligkeit
Gegen Ungeduld – Geduld! Aber: Geduld setzt voraus, dass man den Wachstumsprozess kennt (Gärtner) und in ihn vertraut! Sonst ist Geduld nur Tatenlosigkeit.
Wir müssen dazu Wissen über den Prozess erlangen!
Ohne klare Ziele hat man kein klares Bewusstsein von Problemen in einer Entwicklung und von der Unterstützung, die ein Prozess gerade jetzt braucht.
Folgerungen: Eigenschaften für Wachstumsdenken:
- Erfahrung, Weitblick, Geduld
- Neugier, Lernbereitschaft und Fehlerfreundlichkeit
(Eigenschaften von Jugend + Reife; die Beziehung von Jung und Alt ein Grund für die fehlenden Problemlösungen in unserer Zeit?!
2. Systemlogik.
Ein zweites Standbein hat das Prozessdenken in der Systemlogik. Ist Ihnen vielleicht aufgefallen, dass in den letzten 20, 30 Jahren verstärkt von Systemen die Rede ist? Nicht nur von Computersystemen, sondern auch von Handlungssystemen, von Systemzwängen, Systemfehlern, Systemopfern, Systemschwächen usw..
Gemeint ist damit meist, dass Dinge und Entwicklungen in irgendwie logischen Sinnzusammenhängen stehen. Man hat erkannt, dass Ursache und Wirkung oft sehr viel komplizierter zusammenpassen, als auf den ersten Blick erkennbar, dass sich Wirkungsketten über lange Zeiträume und große Entfernungen zurückverfolgen lassen. Man spricht von komplexen Systemen.
Und im Zusammenhang mit Wirtschaftsunternehmen aber auch mit Eingriffen in die Natur wird es immer wichtiger, möglichst weitblickende Zusammenhänge noch mitdenken zu können. In Debatten um das Ozonloch z.B. rechnet man bereits mit Wirkungsketten von Jahrhundertdauer ....
Die Regeln solcher Systeme zu bestimmen, ist hierbei die Kunst. Und man schafft immer aufwändigere Methoden, um dies zu tun.
Gleichzeitig entdeckt man aber, dass z.B. viele Ureinwohner über ein solches Systemwissen hinsichtlich ihrer Umwelt immer schon verfügt haben und ihr Handeln genau den Systemnotwendigkeiten vor Ort entspricht.
System + Entwicklung:
Als Zeichen des Lebens entwickeln sich auch Systeme weiter, d.h. sie kennen Wachstum, übersetzt in Systemlogik heißt das: Systeme haben Feedback-Schleifen, d.h. sie lernen und entwickeln sich dann, wenn es ein Feedback, eine Resonanz oder Blockade gibt: Man stößt an etwas, an eine Grenze. Das sind dann Systemkrisen, die zu neuem veränderten Handeln zwingen.
Folgerungen daraus:
Um in Systemen denken zu können brauche ich die Fähigkeit, Zusammenhänge überhaupt wahrnehmen zu lernen:
Wie komme ich von einem Denken in Einzelereignissen (ich halte hier und heute einen Vortrag) zum Denken in Zusammenhängen: In welchem Zusammenhang kann man dieses Ereignis „Vortrag“ verstehen: als Schritt in meinem Entwicklungsweg, als Element der Essener Bahá'í-Gemeinde-Entwicklung als Puzzlestein im Denken eines hier Anwesenden Zuhörers usw.
Es gibt eigentlich keine Ereignisse, die plötzlich alles ändern, immer existiert ein System, ein Sinnzusammenhang, der das Ereignis einbettet. Wachstumsprozesse innerhalb eines Systems haben keine Sprünge, d.h. wir machen nicht alles neu, sondern bauen auf den Taten und Erfahrungen der Vergangenheit auf.
Prozesswissen lässt sich auch durch das Studium des Vergangenen erwerben: was ist gut, was nicht so gut gelaufen. Viele Dinge sind vielleicht auf einer Ebene verloren gegangen, weil sie als misslungene Einzelereignis, nicht aber als Baustein von Prozessen verstanden wurden. Auf einer anderen Ebene ist überhaupt nichts verlorengegangen, weil alle Bemühungen irgendeine Resonanz im Wachstumsprozess finden.
3. Sachzwänge:
Heute redet man gerne, besonders in der Politik, von Sachzwängen. Da hinter verbergen sich zwei Tendenzen:
Der Sachzwang hilft als Argument dem einzelnen, keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Wenn in Berlin der Kulturetat aus Sachzwang heraus radikal gekürzt wird, liegt dies nicht in der Verantwortung der zuständigen Politiker, sondern ist ein von außen quasi unmenschlich vorgegebener Zwang. So können auch Mitarbeiter ohne Gewissensbisse entlassen oder Erziehungslücken übergangen werden. Und wenn Erwachsene ihr Leben eingerichtet haben, so kann dies manchen Sachzwang für die Kinder bedeuten, aber an dem kann man leider nichts ändern.
Der Sachzwang wird aber auch von der Erkenntnis um Systemlogiken gespeist. Man versteht, dass hier komplexe Zusammenhänge wirken, die vieles Tun quasi zwangsläufig nach sich ziehen. Die Verantwortung, die für solche Systeme angemessen ist, ist nicht unbedingt die gleiche, die wir von früher her gewohnt sind ...
Wie trägt man Verantwortung in Systemen?
Jetzt reden wir über Prozess-Führung .....
II. Führung
Was verbinden wir eigentlich normalerweise mit Führung?
Der Begriff ist in Deutschland ziemlich negativ besetzt seit hier der Führer sein tausendjähriges Unwesen getrieben hat. Worte wie Führung oder Führerschaft, die in anderen Ländern gang und gäbe sind, kommen manchem hier nur noch schwer von den Lippen.
Dennoch brauchen wir so etwas wie Führung und Führungsqualitäten, auch jetzt in Zeiten von Systemen und Prozessen, von Sachzwängen und ...
Allerdings könnte es sich um eine andere Art von Führung handeln als wir sie gewohnt sind.
Traditionell: Was sind wir gewohnt?
Ich will hier mal 4 Typen von Führung kurz vorstellen, die wir alle kennen:
- der autoriäre Führungsstil
- der paternalistische oder maternalistische Führungsstil
- der allwissende Führungsstil und
- der manipulative Stil
Sie kommen so nicht in Reinform vor, aber ihre Tendenzen sind unverkennbar. Dem einen oder anderen sind wir bestimmt schon häufiger begegnet. Ja, wir werden feststellen, dass wir in unserem eigenen Tun oft genug Aspekte des einen oder anderen selbst an den Tag legen.
a.) Der autoritäre Führer
- gibt Befehle
- hört nicht zu
- droht
- erwartet sofortigen, exakten Gehorsam
Von einer Gruppe kann ein solcher Führer erwarten:
- Widerstand
- Anpassung und Unterwerfung
- Zorn, Gewalt, offene Opposition
- Die eigene Initiative ist unterdrückt
b.) Der pater- bzw. maternalistische Führer
Ein solche Führungsperson
- wünscht das Wohlergehen der Gruppe
- ist Überprotektiv
- wirkt kontrollierend
- erfreut sich u.U. daran, die Abhängigkeit der anderen zu sehen
Die Gruppe reagiert mit:
- Abhängigkeit und Unbeholfenheit
- Passivität und vermindertem Selbstbewusstsein
- entwickelt ihre Fähigkeiten nicht
- bequem! (falls der Führer wechselt, wollen sie einen ähnlichen Führer)
c.) Der allwissende Führer:
Eine solche Führungsperson
- ist arrogant
- gibt mit seinem Wissen an
- ist ungeduldig
- hat ein Erhabenheitsgefühl
- vermindert Glaubwürdigkeit von anderen (indem er sie ins Lächerliche zieht)
Die Gruppe reagiert mit
- geringem Selbstbewusstsein
- Minderwertigkeitsgefühlen
- Angst und Frustration
- geringer Anteilnahme der Mitglieder
- Respekt für den Führer
- Abwesenheit von Initiativen
- manchmal auch offen mit Ärger
d.) Der manipulative Führungsstil
Eine solche Führungsperson:
- ist oft unehrlich
- täuscht nur vor, sich um das Wohlergehen der anderen zu sorgen
- glaubt, dass er über Gesetze hinweg gehen kann
- fördert seine eigenen Interessen
- benutzt eine versteckte Agenda
- nutzt die Schwächen der anderen aus
Die Gruppe reagiert mit
- Desillusion
- Misstrauen (danach ist es schwer, wieder Vertrauen zu bekommen)
- Zynismus
- Mangel an Initiativen
- Gesetze verlieren ihre Wirkung
- Der Einzelne wendet sich von der Gruppe ab, fühlt sich hintergangen.
e.) Führung in einer Demokratie
Uns ist natürlich irgendwie klar, dass in einer Demokratie Führung anders ablaufen sollte als nach den vier o.g. Modellen. Gucken wir uns mal den demokratischen Führungsstil an.
Eine solche Führungsperson
- ist allen Ideen gegenüber aufgeschlossen
- fördert Beteiligung
- hilft, Alternativen zu bedenken und Entschlüsse zu fassen
- nimmt sich der Probleme einer Gruppe an
- versucht Konsens zu erzeugen
- sorgt dafür, dass die Interessen aller sind per Wahl repräsentiert sind
Die Gruppe:
- fühlt sich einbezogen
- Initiativen entstehen
- Selbstbewusstsein der Beteiligten wächst
- Persönliche Weiterentwicklung ist erwünscht
- allgemeine Beteiligung erscheint möglich
Einschätzung zum demokratischen Führungsstil:
Allerdings ist auch dieser Führungsstil nicht ganz unproblematisch, besonders in der momentan vorherrschenden parteienzentrierten Demokratie.
Die Basis der Führung geschieht durch Wahl.
Hier wird aus einer begrenzten Anzahl von Kandidaten und nach oft aufwändiger Wahl-Propaganda (Geld!) eine Person gewählt. Um in einer Demokratie gewählt zu werden, muss ein Kandidat aber gerade nicht demokratische Führungseigenschaften aufweisen: er muss an sich selbst denken, sich durchsetzen, andere in die Ecke drängen, sich in den Mittelpunkt stellen usw.. Und nach der Wahl sind es oft jene traditionellen Führungsstile, die einen Führer erfolgreich werden lassen: der gute Führer setzt sich durch, er weiß alles, sagt wo es langgeht, kontrolliert und manipuliert erfolgreich unterschiedliche Gruppen usw.
Der demokratische Führungsstil, wie wir ihn häufig erleben,
- belohnt die Rücksichtslosen
- fördert Intrigen und verdeckte Koalitionen, faule Kompromisse
- basiert auf und verstärkt Parteienbildung und (künstliche) Unterschiede
- Minderheiten haben Schwierigkeiten, gehört zu werden
- ist anfällig für Lobbying
- konzentriert sich auf die kurzfristige Wählergunst statt der langfristigen Entwicklungsperspektiven
- Das Ideal ist nicht das Beste, sondern der Kompromiss; denn man braucht Mehrheiten
- fördert den Gruppenvorteil und nicht die Idee des Gemeinwohls
Zusammenfassung: Die uns vertrauten Führungsstile wirken bei Licht betrachtet alle nicht so ganz überzeugend. Neben einigen Vorteilen überwiegen bei allen doch die Nachteile.
III. Prozess-Führung
Meine Idee hier ist nun, dass das Führungsmodell für die heutige Zeit sich an ganz anderen Kriterien messen lassen muss. Ich nenne dieses Modell mit dem fürchterlichen Namen „Ethische Prozess-Führerschaft“ und werde es im Folgenden in zwei Stufen erläutern
Zunächst die Prozess-Führerschaft und dann die ethische Version dieser Prozess-Führerschaft.
Prozess-Führerschaft
Was bedeutet Führung im Prozess?
Werden wir jetzt mal konkret
Sehen wir uns z.B. mal die langfristige Beziehung von Menschen in einer Familie an. Wie sieht so etwas als Entwicklungsprozess aus?
Wenn Sie zurücktreten, sehen Sie einen gesamten Entwicklungsverlauf, einzelne Episoden daraus werden gerne erzählt (Wie sich die Eltern kennen gelernt haben, ein ganz besonderer Urlaub ...) andere lieber verschwiegen (ernsthafte Auseinandersetzung, Arbeitsplatzverlust usw.)
- Kennen lernen
- Verliebtheit
- Vertrautheit
- Heirat
- Wohnungswechsel
- Arbeitsentwicklung
- Kindergeburten
- Hauskauf
- Kinderwachstum
- Die Oma zieht ins Haus
- Die Kinder wechseln die Schule
- Die Frau wechselt die Arbeit
- Die Kinder verlassen das Haus
- Kinder heiraten
- Oma stirbt
- Enkelkinder werden geboren
Im Rückblick sieht man Zusammenhänge, erkennt das schleichende Schulversagen des Sohnes und seine sich entfaltenden künstlerischen Neigungen. Man bemerkt die wachsende Vertrautheit zwischen den Eltern, die eine Krise (auch deren langsames Entstehen kann man sehen) bewältigen usw..
Was man vermutlich nicht findet ist einen Prozessführer, einen der das alles steuert und an den entscheidenden Stellen beeinflusst.
Wenn man sich nun einen kleineren Teil dieses Familienprozesses wie durch eine Lupe ansieht, zeigt sich ein anderes Bild: Die Entwicklung des Sohnes hin zu einem begnadeten Restaurator führt uns z.B. zu vielen kleinen Förderschritten, die schon in frühester Kindheit beginnen. Als die Kindergärtnerin seine Freude am Malen und Gestalten zunächst unterstützt, später systematisch fördert. Als die Mutter den Jungen zu einem Urlaub zur malenden Tante schickt, als der Vater sein Bildungsideal vom Sohn als Arzt aufgeben konnte und sich mit ihm gemeinsam auf Ausbildungssuche begibt, und als der Malermeister seinen Malergesellen auf eine Weiterbildung zum Restaurator aufmerksam macht. Außerdem finden wir natürlich viele Momente, wo der Sohn selbst Entscheidungen fällt: lieber das Bild zu Ende malt statt draußen zu spielen, sich mit dem Vater über die Bedeutung der Schule streitet usw.
Wir sehen also selbst in dieser noch sehr groben Vergrößerung eine Vielzahl von Einflussfaktoren auf dem Weg des Sohnes vom Kleinkind zum Restaurator. Bei genauerem Hinsehen tauchen immer wieder Menschen auf, die zur rechten Zeit das Richtige für diese Entwicklung vorangetrieben haben. (Im Nachhinein betrachtet und im Wissen, dass vom Prozess der künstlerischen und beruflichen Entwicklung des Jungen die Rede ist)
Ich würde jetzt sagen: Solche Menschen haben in diesem Prozess zu einem spezifischen Zeitpunkt die Prozess-Führerschaft übernommen
Die Führung übernimmt derjenige in einem Prozess, der zur Zeit das Prozessförderliche tut.
D.h. der Prozess benötigt etwas Spezifisches und wer dieses bereitstellt, übernimmt die Prozessführerschaft. Oder umgekehrt: der Prozess entwickelt sich weiter durch die Interventionen eines Menschen, den ich Prozess-Führer nenne.
D.h. aber auch Prozessführung entsteht und vergeht. Jemand übernimmt die Führung in einem Prozess, indem er das zur Zeit Prozessnotwendige tut. Und schon gibt er diese Führung wieder ab an jemanden, der als nächster mit seinen spezifischen Fähigkeiten das Beste für den Prozess beitragen kann.
Voraussetzungen zur Prozessführerschaft:
Erfahrung: Ich muss Wissen um den Prozess haben (explizit oder implizit; sonst geschieht Führung durch Zufalls; Sachzwang!)
Achtsamkeit: Ich muss auf den Prozess und seinen jeweiligen Bedarf achten, ein Gespür für das Notwendige bekommen.
Fähigkeiten: ich muss mir bewusst darüber sein, was ich beitragen kann, wo ich gut bin und wo nicht so gut.
Verantwortung zum Handeln: Selbst aktiv werden, andere Geeignetere einbeziehen, abwarten können.
Anwendung:
Z.B. In der Beratung, von der Bahá'í immer wieder gern erzählen (vielleicht, weil sie ahnen, dass sie damit einen unschätzbaren Schatz haben, wenn wir auch noch wenig darüber Genaues wissen bzw. in der Anwendung herausbekommen haben) zeigt sich Führerschaftswechsel von Sekunde zu Sekunde. So kann man in einem Gesprächsverlauf sehr wohl den Wechsel festhalten, nicht aber einen Gesamtführer. Es ist am Ende einer guten Beratung fast nie festzustellen, woher ein Beschluss eigentlich gekommen ist ...
- Erfahrung: ich kenne Beratung und ihre Abläufe, vertraue in ihre innere Logik
- Achtsamkeit: was braucht die Beratung gerade jetzt (nicht unbedingt ausgerechnet mein nächstes Statement..)
- Fähigkeiten: Habe ich das, was gerade gebraucht wird?
- Handlungsverantwortung: zu reden, zu schweigen, nachzufragen, aufzufordern
Vom Nutzen für den Prozess zum Gemeinwohl.
IV. Ethische Prozess-Führerschaft
Soweit die Prozess- und Systemlogik.
Wenn man sich hinter den vielen Wörtern den Sinn ansieht, klingt das ja ganz gut.
Allerdings: Wenn man das jetzt noch etwas genauer ansieht, tut sich ein Abgrund von Willkürlichkeit auf.
Da sich Prozessführerschaft an dem Notwendigen des Prozesses ausrichtet, ist sie beliebig vorstellbar. Im Rüstungswettlauf großer Nationen, den man auch als Prozess rekonstruieren kann, bedeutet das Notwendige zwangsläufig etwas völlig anderes als in der Kindererziehung. Aber auch in der Kindererziehung sind völlig unterschiedliche Sinnzusammenhänge vorstellbar, die jeweils etwas gänzlich anderes als nötig und sinnvoll erachten (Kind in Mafia-Familie, in einer weißen Herrscherfamilie im Rahmen eines Apartheidstaates usw.).
Prozessführerschaft kann sich orientieren am Wohlergehen einer Person. Oder es handelt sich um Gemeinwohl, dann kann damit gemeint sein: das Wohl
- einer Gruppe (z.B. der Familie)
- einer Gemeinde,
- eines Staates,
- der Welt.
Reden wir von einem Beispiel, das hier ganz nahe liegt: Das Gemeindewohl der xxxxx Bahá'í-Gemeinde
Es gibt hier sagen wir mal 50 Bahá'í, die eine Gemeinde entwickeln (Wie jede Gruppe besteht eine Gemeinde nicht starr sondern verändert sich ständig, wächst oder vergeht an Zahl oder Geist). Viele Mitglieder dieser Gemeinde verfügen über eigene Erfahrungen in dieser oder einer ähnlichen Gemeindeentwicklung. Mit Achtsamkeit kann ein Gemeindemitglied feststellen, was der Gemeinde gut tut. Es kann seine Fähigkeiten einsetzen, um die jetzt gerade sinnvolle Entwicklung voranzutreiben. Es kann auch eigene Fähigkeiten neu entwickeln, um sie dann zur Gemeindeentwicklung einsetzen zu können. Und es kann die Verantwortung übernehmen, das Richtige zu tun, wenn die Zeit dafür gekommen ist.
Das Richtige kann ein Vortrag über den Wert der Einheit sein, eine Einladung zu einem Abendessen, ein Wunsch nach einem gemeinsamen Gebet, die Planung eines Gemeindeausflugs usw.. Die Fähigkeiten, die dafür nötig sind unterscheiden sich, wie es die Menschen tun: die Kunst der gelehrten, aber verständlichen Rede; die Kochkunst, die geistige Empfindsamkeit, die systematische Planung, die Kunst Freude zu vermitteln usw.
Und man stellt fest: Jeder, wirklich jeder kann zur Gemeindeentwicklung beitragen, jeder kann Prozess-Führerschaft übernehmen. Und eine weitere Erkenntnis hat inzwischen die Erfahrung gelehrt: je mehr Mitglieder an der Weiterentwicklung ihrer Gruppe aktiv beteiligt sind, desto erstaunlicher, reichhaltiger und ganzheitlicher gestaltet sich diese Gruppe.
Wenn man die Logik aber ganz zu Ende denkt, heißt die Zielorientierung einer ethisch begründeten Prozess-Führerschaft: Das Gemeinwohl ist das Wohl der ganzen Welt.
„Es rühme sich nicht der, der seine Heimat liebt, sondern der, der die ganze Welt liebt“
Erinnern wir uns also noch mal der Voraussetzungen zur Führerschaft in Prozessen.
Wir brauchen:
- Erfahrung: Ich muss Wissen um den Prozess haben (explizit oder implizit; sonst geschieht Führung durch Zufall; Sachzwang!)
- Achtsamkeit: Ich muss auf den Prozess und seinen jeweiligen Bedarf achten, ein Gespür für das Notwendige bekommen
- Fähigkeiten: Ich muss mir bewusst darüber sein, was ich beitragen kann, wo ich gut bin und wo nicht so gut.
- Verantwortung zum Handeln: Selbst aktiv werden, andere Geeignetere einbeziehen, abwarten können.
Ethische Prozess-Führung in dem letztgenannten Sinne setzt aber ein ganz besonderes Wissen voraus: Das Wissen um weltumspannende Zusammenhänge, um ausgesprochen langfristige Prozesse und deren Entwicklungsbedürfnisse.
Auf gut Deutsch:
Ich muss wissen
- was die Weltentwicklung braucht
- wie das, was ich in meine kleinen Alltag tue, am besten getan wird im Hinblick auf das Wohlergehen der ganzen Welt
- wo ich kleines Menschlein mit meinen winzigen Quantum an Eigenschaften im gigantischen Weltgeschehen meinen optimalen Platz habe.
Kann man so was überhaupt wissen?
Die Bahá'í sagen dazu: es gibt Menschen, die eine solche Weltsicht haben und diese weitervermitteln. Wir nennen diese Menschen Offenbarer und glauben daran, dass die jüngste Weltsicht von Bahá'u'lláh vermittelt wurde. Bei Ihm kann man eine Menge nachlesen über die momentanen Entwicklungsprozesse, in denen sich der Einzelne und die Welt befinden.
Und wie alle Gottesoffenbarer vor ihm gibt Bahá'u'lláh auch eine Fülle an Hinweisen, Empfehlungen und Weisungen, wie der Mensch sich für die Weltentwicklung und seine eigene Entwicklung optimal einbringen kann.
Und ist es nicht so, dass wir manchmal bei uns selbst das Gefühl haben, etwas völlig Richtiges zu tun, ganz im Einklang zu sein mit der Welt? Kein Wunder, denn wir haben das Gespür für das Richtige in uns. Bahá'u'lláh bestätigt uns, dass wir als ein Gottesgabe „Gerechtigkeit“ mit auf den Weg bekommen haben:
„O Sohn des Geistes! Von allem das Meistgeliebte ist Mir die Gerechtigkeit. Wende dich nicht ab von ihr, wenn du nach Mir verlangst, und vergiss sie nicht, damit Ich dir vertrauen kann. Mit ihrer Hilfe sollst du mit eigenen Augen sehen, nicht mit denen anderer, und durch eigene Erkenntnis Wissen erlangen, nicht durch die deines Nächsten. Bedenke im Herzen, wie du sein solltest. Wahrlich, Gerechtigkeit ist Meine Gabe und das Zeichen Meiner Gnade. So halte sie dir vor Augen.“ (Verb. Worte arab. 2)
Eigentlich fängt an dieser Stelle das Denken über ethische Prozess Führung erst an.
Wir müssten über Haltungen reden:
- Glaube an die edle Natur des Menschen
- Die Verantwortung nach der Wahrheit zu suchen und nach ihr zu handeln
- Dienstbarkeit als Handlungsbasis
Wir müssten über Entwicklungsziele reden:
Was heißt: „Der Mensch ist dazu erschaffen, eine ständig fortschreitende Kultur voranzutragen?“
Was heißt angesichts der zunehmenden Individualisierung, dass persönlicher und gesellschaftlicher Wandel ineinander verwoben sind und nur gemeinsam betrieben werden können?
Und was sind es für spezifische Fähigkeiten, die uns zu einer ethischen Prozessführung befähigen?
Um nur einige zu nennen:
- Die Fähigkeit zu weitreichender Vision und zielorientiertem Handeln
- Die Fähigkeit zu Transzendenz (Das Geistige durchschimmern sehen)
- Die Fähigkeit, Einheit in der Vielfalt zu sehen und zu fördern
- Die Fähigkeit, miteinander zu beraten
- Die Fähigkeit, andere zu ermutigen
Vielleicht sollte man zusammenfassend sagen, die Fähigkeit, meinen Nächsten zu lieben wie mich selbst vor dem Hintergrund, dass der Nächste mein Mitmensch ist – und zwar überall auf der Welt.
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Dieser Vortrag ist einfach zu schade für die Schublade "Aus meiner Schatztruhe"
Verfasst von Gerhard Bähr am 7 November, 2015 - 09:46
Termin: 07.11.15 09:36
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